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„Master of Archives and Records Management“ – Ein Archivar aus NRW durchläuft die britische Fachausbildung, Teil 2

‘All archives are records, but not all records become archives.’ – Oder auch: Was ich in meinem ersten Studienmodul an der University of Dundee gelernt habe.

Bevor ich auf den Inhalt des Moduls „The Theory and Context of Recordkeeping“ näher eingehe, sind vielleicht einige allgemeine Eindrücke des berufsbegleitenden Fernstudiums britischer Prägung interessant:

In Dundee existieren keine Präsenzveranstaltungen mehr. Mit zwei angesetzten Terminen waren diese bereits vor der Pandemie eher überschaubar und sind seit 2020 vollständig abgeschafft. Die gesamte Lehre erfolgt somit online, jedes Modul wird von einem Tutor vollumfänglich betreut. Im Vergleich zur sozialen Erfahrung eines klassischen Präsenzstudiums ist diese Umstellung sicherlich gewöhnungsbedürftig und der zwischenmenschliche und berufspraktische Austausch mit den Kolleg*innen an der eigenen Arbeitsstätte daher umso bedeutender – vielleicht auch grundlegender. Zudem gibt es keine zwingende Reihenfolge der Studienmodule, da diese teilweise auch für verwandte informationswissenschaftliche Studiengänge belegt werden können. Dies hat zur Folge, dass in jedem Modul die Kommiliton*innen wechseln und es die bei deutschen Ausbildungsstätten charakteristischen Kurs-Jahrgänge nicht gibt. Die Mehrheit der mir bisher begegneten Studierenden stammt aus Schottland und England, einzelne aber auch aus der Republik Irland, von den Kanalinseln und Mauritius.

Unabhängig vom akademischen Kulturschock werden die Inhalte in wöchentlichen Lehrabschnitten sehr effektiv und durchdacht vermittelt. Überprüft wird die Studienleistung fortlaufend durch (verbindlich einzustellende) „Discussion Board“-Beiträge sowie durch drei kurze „Assessed Tasks“ im laufenden Semesterbetrieb sowie zwei längere „Final Assignments“ am Semesterende. Assessed Tasks und Final Assignments werden abwechselnd entweder als Essays oder als Report eingereicht. Essays sind mit den Hausarbeiten kulturwissenschaftlicher Fächer vergleichbar und eignen sich zur argumentativen Ausführung. Das Reportformat soll in standardisierter, verdichteter Form relevante Information so effizient wie möglich präsentieren. Dies hat den hilfreichen Nebeneffekt, dass sich angehende Recordkeeper fortlaufend im Verfassen von Memoranden oder Berichten für Vorgesetzte, Mitarbeitende und potentielle Fördergeber*innen üben können.

Nun zum Inhalt des ersten Semesters (eigentlich Trimesters): In der deutschen Archivausbildung ist das grundlegende Aufgabenfeld der „Schriftgutverwaltung“ verankert, aber hauptamtliche „Records Manager“ finden sich in der Verwaltungspraxis überlieferungsbildendender Institutionen nur in Ausnahmefällen. Im Gegensatz dazu ist dieses Berufsbild in der englischsprachigen Welt fest etabliert und definiert seine Aufgaben teils in Überschneidung mit, teils in Abgrenzung vom Archivwesen. Das einführende Studienmodul vermittelt angehenden Archivar*innen und Records Manager*innen daher die Perspektive einer gemeinsamen Grundsätzen verpflichteten Disziplin des „Recordkeepings“. Die Schaffung einer gemeinsamen Basis ist angesichts der Heterogenität der Studierenden durchaus sinnvoll: Einige sind in Unternehmen und Medienanstalten überwiegend mit der Dokumentation des aktuellen Tagesgeschäfts befasst, während die meisten aber in Archiven tätig sind. Das Spektrum reicht von an öffentliche Verwaltungen angeschlossenen Institutionen, über Universitätsarchive und privat finanzierte Kulturstiftungen bis hin zu Unternehmensarchiven.

Am Anfang des Moduls steht ein Überblick individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Motivationen und Traditionen in der Erzeugung von records (Aufzeichnungen). Es wird nicht nur ein sehr weitreichender zeitlicher und geographischer Bogen zur Geschichte der Schriftkultur, des Archivwesens und der britischen Archivkunde geschlagen, sondern es werden konkrete Argumentationsstrategien zur Vermittlung der Notwendigkeit eines professionellen Recordkeepings gegenüber dem eigenen Arbeitgeber als auch der breiten Öffentlichkeit vermittelt. Zur Veranschaulichung werden öffentlich bekannte Beispiele für gutes und schlechtes Recordkeeping in Verwaltungen, Unternehmen und Archiven aus der jüngeren Vergangenheit vorgestellt.

Dem folgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem records-Begriff. Dabei geht es nicht um die Vermittlung dogmatischer Grundsätze, sondern darum, dass stets Neudefinitionen von „records“ erfolgen müssen – und zwar in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen und trotz allgemeiner Kriterien wie etwa Inhalt, Kontext und Struktur.

Vorgestellt werden dabei die wesentlichen Arbeitsprozesse des Records Management und des Archivwesens im Umgang mit analogen und digitalen Unterlagen und Medien. Ebenso werden Datenschutz- und Informationsfreiheitsgesetze sowie damit verbundene Anfragen thematisiert. Die Studierenden sollen daher die für ihre jeweilige Arbeitsstätte geltende nationale Rechtslage recherchieren und präsentieren, um so trotz des britischen Fokus auch den Ausbildungsbedürfnissen der „overseas students“ gerecht zu werden.

Für die Darstellung von Arbeitsabläufen wird zunächst das klassische „life-cycle concept“ vorgestellt. Anschließend folgt das seit den 1990er Jahren zunehmend rezipierte „records continuum model“ (RCM). Dessen komplexe, nichtlineare Betrachtung relevanter Akteure und Interessen bei der Erzeugung, Bearbeitung und Nutzung von records wurde v. a. in Hinblick auf die ephemeren Eigenschaften von born digitals entwickelt. Vom RCM ausgehend werden ergänzende Konzepte wie insbesondere „participatory recordkeeping“ vorgestellt, welches eine Einbeziehung der Interessen betroffener Personen bei der Erschaffung und Verarbeitung über sie angelegte records anstrebt. Interessant ist auch die Thematisierung der Herausforderung eines „trauma informed recordkeeping“, welche nicht nur die Gefährdung der Nutzenden, sondern auch der mit dem potenziell traumatisierenden Material konfrontierten Recordkeeper in den Fokus nimmt.

Die verschiedenen Konzepte implizieren auch einen Wandel im Selbstbild der Rekordkeeper: Von unparteiischen Hütern (custodian) der Unversehrtheit und Beweiskraft von Aufzeichnungen im alleinigen Interesse der Überlieferungsbildner, über historisch bewanderte Expert*innen (post-custodial approach), die  bei ihrer Bewertungsentscheidung auch breitere gesellschaftliche und kulturelle Interessen einbeziehen, bis hin zu postmodernen Kurator*innen, die eine ergänzende Sammlungstätigkeit zur Abbildung vormals marginalisierter Gruppen und Aspekte aktiv entfalten.

Diese unterschiedlichen Berufsauffassungen haben auch Auswirkungen auf die Verortung gegenüber ethischen Grundsatzfragen, nämlich inwieweit Recordkeeper eine Position der Unparteilichkeit wahren oder bis zu welchem Grad und in welcher Weise sie aktiv in gesellschaftlichen Prozessen bzw. deren Dokumentation intervenieren sollten. Ein typisches Szenario ist beispielsweise die ambivalente Rolle personenbezogener Unterlagen in repressiven Regimen, die einerseits zur Unterdrückung genutzt werden, aber andererseits auch als Beweise im Dienste einer transitional justice dienen können. Ein anderes Beispiel ist die selektive Gestaltung (und damit Machtausübung) von Archiven bei der Produktion von kollektiven und individuellen Geschichtsbildern und Identitäten. Die zur Pflichtlektüre des Kurses zählende Fachliteratur ist bei diesen Themen uneins und bleibt eine konkrete Antwort schuldig. Diese ergebnisoffene Auseinandersetzung will somit angehende Recordkeeper zu eigenen Überlegungen bezüglich ihrer professionellen Grundsätze anregen. Bei mir jedenfalls zeigt es Wirkung.

Neue Veröffentlichung: “Die GND im Archiv. Handreichung zur Nutzung von Normdaten”

Der Einsatz von Normdaten, insbesondere die Gemeinsame Normdatei (GND), ist für Archive perspektivisch von großer Bedeutung. Sie ermöglichen vor allem eine standardisierte Erfassung von Objekten und Sachverhalten, was eine bessere Verknüpfung von Erschließungsdaten über verschiedene Einrichtungen hinweg sicherstellt. Dies führt nicht nur zu einer verbesserten Qualität der eigenen Erschließung, sondern auch zu einer erheblichen Steigerung der Auffindbarkeit und Nachnutzbarkeit von Archivalien. „Neue Veröffentlichung: “Die GND im Archiv. Handreichung zur Nutzung von Normdaten”“ weiterlesen

Mein Archivstudium – Was ich im Praxissemester gelernt habe

Guten Tag liebe Lesenden,

das Praxissemester neigt sich in schnellen Schritten dem Ende zu und ich möchte Ihnen nun einen kleinen Einblick geben in die Dinge, die ich in den letzten Wochen gelernt habe, und anschließend einen kleinen Ausblick auf die Studieninhalte des sechsten Semesters geben. „Mein Archivstudium – Was ich im Praxissemester gelernt habe“ weiterlesen

Literaturliste (nicht nur) für Quereinsteiger:innen in (kommunalen) Archiven

Im deutschen Archivwesen ist seit der Einführung von Archivgesetzen auf Länderebene Ende der 1980er Jahre der Bedarf an archivisch ausgebildeten Fachkräften nie gedeckt gewesen. Quereinsteiger:innen waren und sind besonders im kommunalen Bereich zahlreich vertreten und leisten einen wichtigen Beitrag zu dem Ziel, eine möglichst aussagekräftige Überlieferung im jeweiligen Archivsprengel zu bilden.

Seit meinem eigenen Einstieg in das Archivwesen Ende der 1990er Jahre, damals als Quereinsteiger, hat sich viel getan. Die archivischen Arbeitsfelder haben sich ausgeweitet und die Informationsmöglichkeiten über das Internet oder mit Fachliteratur haben sich exponentiell erhöht. Inzwischen ist es für Neulinge im Archivwesen schon schwierig, sich in bestimmte Themenfelder selbstständig einzuarbeiten, weil die Masse der Fachliteratur die passende Auswahl schwierig macht.

Das Ziel der folgenden Liste ist daher vor allem, Grundkenntnisse zu vermitteln, „Literaturliste (nicht nur) für Quereinsteiger:innen in (kommunalen) Archiven“ weiterlesen

Aktenkundliches zu einem Bestand aus der Zeit der Ruhrbesetzung 1923

Unser Kollege Daniel Möllers, derzeit in Ausbildung zum Landesarchivinspektoranwärter an der Archivschule Marburg, hat im dortigen Archivwelt-Blog einen sehr interessanten aktenkundlichen Essay mit dem Titel

Die „Prangerlisten“ der Zentrale Nord: Spurensuche zu einer ungewöhnlichen archivalischen Quelle

veröffentlicht, der eine breite Leserschaft verdient und auf den hier daher verwiesen werden soll. Der Bestand stammt aus dem Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen in Münster.